Montag, 12. September 2011

Dialog mit Untermieter

Malte: Topsy....Topsy!

Topsy: Was? Was ist denn?

M: Topsy, hörst du mich? Antworte mal!!

T: Malte, bis du das? Warum flüsterst du denn so? Mach doch einfach die Tür auf und komm rein.

M: Topsy, hörst du mich denn?

T: Mensch, du darfst eintreten, es ist erlaubt. Meine Güte.

M: Topsy? Hast du gesagt ich kann reinkommen? Ok du, ich mach jetzt erst mal die Tür auf.

T: Ja!

M: Hi. Hallo Topsy. Oh man, riecht das hier gut in deinem Zimmer. Echt cool.

T: Och Malte, was willst du denn? Ich arbeite grade an meiner Diplomarbeit und hab nicht viel Zeit. Weißt du doch.

M: Ja, ja genau, ich weiß. Ich will dich auch überhaupt gar nicht lange nerven, ich dachte nur so, wo wir doch Tür an Tür wohnen, oder eher Wand an Wand. Also ich dachte, daß du dich freust, wenn dein lieber Untermieter dir als erstes die tolle Nachricht überbringt.

T: Ok Malte, ich geb' dir fünf Minuten. Also, was für tolles News sind das?

M: Topsy, es ist passiert!

T: Was ist passiert?

M: Sie haben sich gemeldet.

T: Die vom Jobcenter?

M: Nein Topsy. SIE!

T: Malte! Wer hat sich gemeldet.

M: Ich hab dir doch von diesem wissenschaftlichen Projekt erzählt. Davon, daß die das All nach Radiosignalen absuchen.

T: Keine Ahnung. Was ist damit? Haben die 'nen Job für dich?

M: Ich mach' da doch auch mit. Mein Laptop verarbeitet ständig auf dem Homeserver eingegangene elektromagnetische Frequenzen und untersucht sie nach Anomalien.

T: Dein Laptop macht was?

M: Halt dich fest Topsy, halt dich fest. Die letzten zwei eingegangenen Signale sind eindeutig. Jetzt steht es zweifelsfrei fest: Sie haben geantwortet.

T: Malte, mach mich nicht wahnsinnig. Wer hat geantwortet?

M: Die Ausserirdischen!

T: Was?!

M: Topsy, ich schwörs dir. Ich habs aufgezeichnet. Ich kann 's dir vorspielen. Ich bin noch total geflasht. Ich habs eben erst gehört. Deshalb wollt ich dich fragen, ob du's dir auch mal anhören kannst. Als Zeugin sozusagen.

T: Malte...

M: Ja?

T: Es gibt keine Ausserirdischen.

M: Doch, sie haben sich gemeldet. Ich hab's empfangen. Es ist 28 mal stärker als das normale Hintergrundrauschen. Und ich konnte es gleich zwei mal aufnehmen. Hintereinander. Genau das gleiche Signal. Man, versteh das doch, ich kann alle möglichen bekannten Quellen ausschließen. Es kann nicht terrestrischen Ursprungs sein.

T: Es kann nicht was?

M: Von der Erde stammen und mit größter Wahrscheinlickeit auch nicht aus unserem Sonnensystem. Weißt du was das bedeutet, Topsy? Weißt du was das bedeutet?

T: Das du wieder zu viel gekifft hast, Malte.

M: Topsy, dies ist der Anfang einer neuen Zeitrechnung. SETI hatte recht!

T: Wer?

M: Egal, Topsy komm mit, du mußt dir das anhören.

T: Malte, ich hab keine Zeit, ich muß meine Diplomarbeit schreiben.

M: Diplomarbeit, vergiß es, das hier ist von intergalaktischer Wichtigkeit. Kontakt, Topsy, Kontakt. Erster Kontakt, ever. Jetzt wissen sie, daß es uns gibt, das hier ist geiler, als Jesus Geburt, Galilei, Columbus und Internet zusammen, man! Das revolutioniert nicht nur unsere Welt. Nein, das ganze Weltall!


T: Malte, in deinem Zimmer stinkts. Wann hast du hier denn das letzte mal gelüftet? Gott und du hast deine Fenster mit Stoff zugetaped? Bist du irre?

M: Hier, schau mal auf den Bildschirm. Diese Graphik zeigt auf der x-Achse die Frequenz, die wir empfangen, auf der y-Achse die Energie und auf der z-Achse die Zeit. Und jetzt spiele ich das aufgezeichnete Signal ab. Siehst du? Bisher waren die Ausschläge unregelmäßig und ähnlich hoch. Aber dieser Ausschlag hier, siehst du wie lang und hoch er ist? Eindeutig künstlich!

T: Sag mal ist das Pizza da unter deinem Bett? Oh Gott, Malte, ich glaub die ist verschimmelt. Oh nein, schau doch mal, das ist ganz blau und pelzig. Malte, du schläfst auf einem Schimmelhaufen, oh Gott ist das ekelig.

M: Topsy, wenn diese aufgezeichneten Signal kein Fake sind, bedeutet das, daß die Menschheit, die Erde, wir alle das erste Mal Kontakt zu intelligentem Leben aufgenommen haben.

T: Intelligentes Leben? Coole Sache! Brauchen die vielleicht 'nen Raum zur Untermiete?

Dienstag, 6. September 2011

Beschreibung

Grete sitzt auf ihrem Stuhl in der Küche. Sie trägt ein dunkelblaues Etuikleid, daß schon bessere Zeiten gesehen hat, darunter ein schwarzes Langarmshirt und dunkle Strumpfhosen. Ihre Füße sind in dicke Pantoffeln gepackt.
Ihre fast schwarzen Haare trägt sie akkurat zum Zopf gebunden und ein langer Pony fällt ihr in die Stirn.
Wenn sie blinzelt, zuckt ihre linke Gesichtshälfte. Eine große Narbe, die quer über ihre Wange verläuft, zeugt von einem Unfall. Bei der Verletzung wurden Gesichtserven durchtrennt, die nun bei jedem Augenaufschlag irritierte Signale an alle Wangenmuskeln schicken. Wenn sie lacht, lacht nur ihre rechte Gesichtshälfte. Die linke kann es nicht mehr.
Grete ist oft in ihrer Küche. Dort steht sie dann, vor ihren ordentlich eingeräumten Hängeschränken.
Zielsicher fischt sie den Filter, das Papier und Geschirr heraus und stellt es vor sich hin. Immer in der gleichen Reihenfolge, immer die gleichen Dinge.
Ihre Bewegungen sind nicht schnell, aber eingespielt. Wenn ein Papierchen aus dem kleinen Karton mit dem Filterpapier schaut, dann schiebt sie es zurück, so dass nichts knickt.
Manchmal brüht sie sich auch Kaffee auf und läßt ihn stehen. Dann sitzt sie da, hält sich den Bauch und schaut auf den weniger werdenden Dampf. Grete hält sich oft den Bauch.
Dann und wann steht sie vor dem Spiegel und betrachtet sich mit gerunzelter Stirn von der Seite.
Auf ihrer sonst schlanken Silhouette zeichnet sich dann eine kleine Wölbung ab. Grete legt ihre Hände sanft darauf, wie eine Schwangere. Sie betrachtet sich, mehrere Minuten, dann schüttelt sie genervt den Kopf und verläßt den Spiegel.
Beim Gehen zieht sie ihren linken Fuß nach. Dieser ist gelähmt und sie kann ihn nicht heben. Wenn sie so durch ihre Wohnung schlappt, heben sich ihre Füße kaum vom Boden, sie schlurft mit ihren achtundzwanzig Jahren mehr wie eine alte Oma über das knarzende Parkett.
Grete kellnert in einem kleinen Café in der Nähe ihrer Einzimmerwohnung. Sie bedient die Gäste freundlich, plaudert hier und da mit ihren Kollegen, die ihr meist von wichtig Projekten erzählen, die sie am Start haben. Grete hört zu, nickt interessiert, gibt Tipps und bestärkt sie, ihre Vorhaben umzusetzen.
Von sich selbst erzählt Grete nicht viel. Wenn sie gefragt wird, was sie außer Kellnern mal machen will, muss sie meist schnell zu einem neuen Gast oder etwas abkassieren oder einen Tisch abwischen.
Manchmal geht sie mit ihren Kollegen tanzen. Dann steht sie erst, mit einem Bier in der Hand, an die Wand des Clubs angelehnt. Ihr Kopf wippt kaum merklich zum Takt der Musik. Wer sie genau beobachtet, sieht, daß ihr Gesicht langsam seinen gedrückten Ausdruck verliert. Ihre braunen Augen fangen an zu blitzen und ein paar kleine Fältchen kräuseln sich um sie.
Dann suchen sie Kontakt, Kontakt zu anderen Augen.
Und wenn die Musik lange genug Gretes Geschmack entspricht, dann fängt sie an zu tanzen. Eine Plastikschiene, die sonst eher alte Menschen nach einem Schlaganfall tragen, hält ihren Fuß in einem rechten Winkel. Unter engen Jeans versteckt, erlaubt sie ihr, zu laufen, zu tanzen, zu springen, so wie früher. Gretes Hüften schwingen im Takt, ihre Schultern bewegen sich abwechselnd nach vorne und hinten und ihr Zopf hüpft wild hin und her. Ihr Körper bebt, sie wirft ihre Arme nach oben und sie lacht.
Ihre Kollegen schütteln dann ungläubig die Köpfe, ob der Verwandlung ihrer ruhigen Mitarbeiterin.
Sie tanzen mit ihr, lachen mit ihr, trinken mit ihr.
Wenn ihre Augen netten Kontakt gefunden haben, dann kommt es vor, daß auch ihr Mund diesen aufnimmt. Erst spricht er, dann entströmt ihm ein Lachen, ein festes, freudiges Lachen. Ihre Hände folgen Augen und Mund, sie berühren, sie fassen an. Dadurch angeregt, wird ihr Mund übermütig und küsst. Die Augen verabschieden sich und schließen langsam ihre Lieder. Dann ist nur noch ihr Körper da und nimmt den größten Kontakt auf, stellt seine ganze Fläche zur Verfügung für die innigste aller Berührungen.
Dann wacht Grete nicht allein auf und ihr Lächeln verfliegt erst wieder, wenn sie ihre Tür von innen schließt.
Dann sitzt sie wieder auf ihrem Küchenstuhl und trinkt alleine einen Kaffee.

Samstag, 3. September 2011

War und ist

Grete schloss die Tür.
Jetzt war er weg. Literweise Einsamkeit schwappte auf sie nieder und machte ihre leere Wohnung zu einem Ort der Unerträglichkeit.
Das paradoxe daran war, daß es sich zwar so anfühlte, als sei die Unerträglchkeit nicht zu ertragen, es ging jedoch verblüffend einfach.
Alles was sie tun mußte, war weiter zu atmen. Zug um Zug. Ein und aus. Wenn sie dann das Gefühl bekam, dass sie es gleich nicht mehr weiter würde aushalten können, wartete sie ab, Augenblick um Augenblick, bis es nicht mehr gehen würde. Doch es ging und es passiert einfach gar nichts. Sie platzte nicht, sie fiel nicht tot um oder löste sich in Luft auf.
Sie stand da, die Hand an ihrer Türklinke, den Kopf leicht gesengt. Durch die Fenster fielen die blassen Strahlen einer wolkenverdeckten Sonne. Sie hätte das Licht anmachen können, an diesem Oktobermorgen, doch sie wollte nichts verändern.
Es gab Konservendosen, die hielten ihren Inhalt zwanzig Jahre haltbar.
Grete lies die Klinke los und ging durch den kleinen Flur in ihr Schlafzimmer. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Ihre Bettdecke lag zerwühlt nur halb auf ihrem Bett und ergoß sich zum anderen Teil bis auf den Parkettboden. Das Kissen klemmte zusammengeknautscht zwischen den geschwungenen schwarzen Metallstäben. Sie trat ganz nah heran und kniete sich davor. Die rechte Hand legte sie auf ihre Matratze und schob sie vorsichtig unter ihre Bettdecke. Es war noch warm darunter. Auf dem weißen Bezug kringelten sich ein paar blonde Locken neben dunklen langen Haaren.
Sie atmete ein und aus. Die Zeit, in der etwas passiert, war so kurz, die Zeit in der es dann Erinnerung war, so unendlich.
Sie machte ihr Bett nicht. Sie sah sich nur an, was es erzählte, so konnte sie den schleichenden Übergang von Realität zu Erinnerung noch etwas hinauszögern. Sobald sie sich heute Nacht wieder hineinlegen würde, würde dieser kleine Gedankenjuwel für immer in die Untiefen ihres unendlichen Gedächtnisses hinabgleiten. Dort ruhte er dann, im Setzkasten ihrer besonderen Augenblicke, um jederzeit herausgenommen, angeschaut und bewundert zu werden und doch nur als Beweis dafür zu gelten, dass so viel war und so wenig blieb.
Grete löste sich vom zerwühlten Bett. Sie ging in die Küche und stellte den Wasserkocher an.
Aus dem Schrank holte sie eine blassgelbe Kaffeetasse samt Untertasse heraus. Ein schwarzer Hahn mit rotem Schnabel und rotem Kamm zierte den Keramikpott.
Bevor es passierte, damals, wurde sonntags bei ihnen immer schön eingedeckt, Kerzen hatten dann gebrannt, im Winter auch der Kamin und sie alle vier, Mama, Papa, Johanna und sie selbst, Grete, hatten am Tisch gesessen und getoastetes Toastbrot gegessen von blassegelben Tellern mit einem schwarzen Hahn und einer schwarzen Henne.
Grete packte einen Plastikkaffeefilter auf eine ebenfalls gelbe Keramikkanne. Dann legte sie einen Filter hinein und streute mehrere Löffel gemahlenen Kaffee darauf.
Das Wasser im Kocher schlug Blasen. Nach und nach goss sie es auf das Pulver und beobachtete, wie es anfing zu schwimmen und sich brauner Schaum am Rand sammelte. Langsam sank der Wasserspiegel wieder und sie goss nach.
Filterkaffee mit einem Schuß Dosenmilch, die ihm, umgerührt, eine goldbraune Farbe verleiht.
Ihre Eltern hatten nur Kondensmilch benutzt, so sieht es schöner aus, hatten sie immer gesagt, mit gewöhnlicher Vollmilch würde der Kaffee hingegen grau werden.
Wenn sie, Grete, Johanna besuchte, dann bekam sie von ihr einen Latte Macchiato mit viel aufgeschäumter H-Milch in einem dicken, großen Glas. Daneben lag ein extra langer Löffer, damit man den braunen Gürtel, der zwischen der Schaumkrone und dem warmen Milchboden hing, umrühren konnte.
Grete goss Wasser nach.
Der Kaffee ihrer Schwester schmeckte gut, sehr gut, aber anders.
Die Kanne war voll.
Sie stellte Tasse und Untertasse auf ein Platzdeckchen auf ihrem Küchentisch und die Kanne auf einen Korkuntersetzer.
Dann goss sie sich den Kaffee ein.
Dampf stieg auf und es roch nach Frühstück. Es roch wie damals, genau wie damals.
Sie stand auf und holte sich die Kondensmilch aus dem Kühlschrank.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Mutter selbige ins schwarze Getränk gießen. Mit einem alten Silberlöffel rührte sie um, legt ihn dann auf die Untertasse und trank, vielmehr schlürfte sie einen kleinen Schluck.
Dann hatte sie selbst auch nach Kaffee gerochen.
Grete setzte die Tasse an und schlürfte. Eine kleine Unachtsamkeit und die Tasse und die Kanne würden vom Tisch fallen und in abertausende kleine Teilchen zerbrechen.
So etwas ging so schnell und doch, die Tasse, aus der ihre Mutter und ihr Vater getrunken hatten, war noch da.

Das wundersame Vögelchen

Auf dem runzeligen Ast einer in die Tage gekommenen Buche saß ein kleines Vögelchen und piepste vergnügt vor sich hin.
Es war ein wundersames Kerlchen, mit leuchtend roten Federn und einem drolligen, aber wunderschönen Puschel auf dem Kopf.
Wenn es lief oder oder etwa nickte, dann schwang dieser Puschel sanft umher und sorgte so nebenbei dafür, daß es viel stattlicher wirkte, als es eigentlich war.
Doch jetzt saß es einfach nur da und begrüßte den jungen Tag, der soeben seine schlaftrunkenen Augen öffnete. Bläuliches Zwielicht schob die Nacht Richtung Westen und offenbarte genügsam die Konturen des Waldes. 

Zwischen den unzähligen Stämmen waberte verirrter Nebel und konnte im weit verzweigten Grün der Baumkronen seinen Ausgang noch nicht finden.
In dieser vollkommenen Unbeschwertheit versprach der junge Morgen zu einem friedlichen Tag heranzuwachsen, als das plötzliche Stapfen schwerer Stiefel diese Unschuld jäh durchbrach. Feine Äste und getrocknete Blättchen zerbröselten in einem Chor aus Knacken und Krachen und hinterließen eine narbige Spur im Reich des fragilen Bodengewirrs.
Ein großer, schwarzer Schatten näherte sich unaufhaltsam der alten, knorrigen Buche und mit jedem Schritt, der ihren Abstand verkürzte, erklang das eben noch so sorglose Piepen lauter und hektischer.
Mit großen Augen fixierte das Vögelchen die riesige, dunkle Gestalt und sein puscheliger Kopfschmuck zitterte wie Schilf im Wind.
Atmelose Stille knallte schockartig bis in die letzten Wipfel, als die Schritte ein plötzliches Ende direkt vor dem Ast des leuchtend roten Waldbewohners fanden. Vor Schreck und Frucht hopste dieser vom Baum und flatterte davon.
Mit pochendem Herzchen landete das Vögelchen auf einem der höheren, dünneren Äste und blickte angstvoll hinunter. 

Die Starre des Entsetzens nahm von ihm Besitz, als schwarz behandschuhte Finger in eine fein säuberlich aufgeschichtete Ansammlung von Zweigen griffen und ein winziges fragiles Vogelei heraus stibitzten.
Es hatte eine cremeweiße Farbe und war so transparent, daß die dünnen Bahnen kleiner roter Adern durchschienen.
Aufgeregt piepste das Vögelchen los und sprang verstört auf und ab. Sein wuscheliger Puschel vibrierte und wogte bei jedem Sprung hektisch hin und her.
Das gequälte Piepsen wurde lauter und flehender, doch die Hand langte schon nach dem zweiten kleinen Ei und lies es ebenfalls in einer Ledertasche verschwinden.
Das Herz des Vögelchens schlug nun so schwindelerregend schnell, daß es drohte zu zerbrechen.
Da bewegte sich die Hand ein drittes mal zum holzigen Nest.
Ein letztes, einsames Ei ruhte noch darin. Unter seiner Schale pulsierte bereits das Leben und wartete nur auf den richtigen Moment sich der Welt zu zeigen.
Doch sein kurzes Schicksal schien besiegelt. Wie eine Dunkle Wolke legte die Hand sein Weiß in Schatten und verschlang es. Da sprang der rote Vogel mit einem grellen Schrei vom Ast und lies sich im Sturzflug direkt auf das glänzende Leder fallen.
Entschlossen warf er seinen Kopf nach vorne und hinten, sodass sein Federschmuck in großen Wellen um ihn herum wallte. Mit immer größeren Bewegungen schüttelte er seinen Körper und stieß dabei glasklare, lang gezogene Pfiffe aus.
Da hielt die Hand inne und bewegte sich nicht mehr.
Der ganze Wald hielt seinen Atmen an und tausend Augen richteten ihren Blick auf die beiden ungleichen Gegner.
Die Sonne schoß ihre ersten roten Strahlen über den Horizont und lies die Erde erglühen.
Erst als sich ihr Licht weiß verfärbte, durchbrach ein kaum wahrnehmbares Klopfen die Stille.
In der Mitte des schwarzen Handschuhs lag leuchtend hell das dritte Ei. Es rollte ein wenig hin und her, dann breitete sich ein feiner Riss quer über die Schale aus und schließlich sprang eine große Ecke weg und ein gelbes Schnäbelchen an einem kleinen, nassen Vogelköpfchen kam zum Vorschein.
Sein erster Schrei erklang bis über die Wipfel der Bäume und drang bis in die hintersten Ecken jeder noch so verhärteten Seele, als es nach seiner Mutter rief.
Der Schatten aber zuckte nur kurz im Echo einer Erinnerung.
Doch als eine zweite Narbe den Weg seines Rückzug preisgab, lugten zwei weiße Ovale durch die Öffnung einer Ledertasche, die wohl jemand auf dem Boden verloren hatte.
Und ein frisch geschlüpftes Küken plumpste etwas unsanft, aber unversehrt zurück ins mollige Nest.
Der Tag hielt, was sein sein Morgen versprochen hatte. Eine wärmende Sonne hing friedlich zwischen aufgeplusterten Wölkchen und die Vögel des Waldes trällerten beschwingt und heiter ihre Weisen. Doch ein Gesang übertraf alle anderen mit seinem schier endlosen Jubel vor Glück.

Dienstag, 23. August 2011

Tante Bertas siebzigster Geburtstag.

Es war einer dieser unendlich wichtigen familiären Höhepunkte, an welchem es erforderlich war, dass wir wieder als eine Person mit zwei Körpern herumliefen.
Unsere Mutter ging mit liebevoller, aber kompromissloser Perfektion an diese Sache heran. Sie steckte uns nicht nur in zwei extra zu diesem Anlass neu erstandene dunkelbraune steife Kordkleidchen, mit einem affigen weißen Kragen, der es einem von vornherein verbat sich am üppigen Buffett zu bedienen. Sie vermaß zudem noch penibel den Abstand der Metallklämmerchen, die unsere breiten weißen Haarbänder fixierten, zu unseren Ohren.
Erst als sie absolut sicher war, daß selbst wir nicht mehr merken konnten, ob wir einem Spiegel oder uns selbst gegenüberstanden, war sie einigermaßen beruhigt. Sollte das verstehen, wer will.
Wir glichen uns doch schon sowieso wie ein Ei dem anderen, da wir eineiige Zwillinge waren.
Diese Feier war für uns ein Rückschritt unserer hart erkauften Individualitäten. Nach wochenlangem Betteln während der großen Schulferien, hatten wir durch unsere Penetranz schließlich durchgesetzt, daß wir ab der dritten Klasse endlich in unterschiedlichen Klamotten zur Schule gehen durften.
Johanna trug viel lieber Röcke als ich. Und Strumpfhosen. Mir ziepten und kniffen diese am Po und sobald man mal hin fiel, war ein Riss drin und und Mama schimpfte, weil sie wieder stopfen mußte.
Ein Grund mehr, weshalb ich Hosen bevorzugte, denn Röcke legten an meinen bestrumpften Beinen unzählige Löcher frei, die Mama akkurat genäht hatte und die nun als Hubbel aus Garn zu erkennen waren.
Überall kleine Hügelchen in den blickdichten rosa oder weißen Strumpfhosen. Als hätte ich Masern, oder die Beulenpest.
Johanna bewegte sich eigentlich nur, weil es anders unmöglich war von A nach B zu gelangen. Oder weil man bei dieser Tätigkeit die vorbeiziehende Landschaft bestaunen konnte. So hielt sie oft an, blieb stehen und schaute fasziniert einer Amsel beim Pfützenbad zu. Beobachtend, mit ihren offenen, heiteren Augen, blickte sie in die Welt. Doch sie war nicht melancholisch. Ein zartes Lachen umspielte stets ihre Lippen, als erfreue sie sich permanent an ihrer Umgebung.
Ich dagegen musste meinen Lebensraum körperlich erkunden, ihn mit allen Sinnen erfassen, Bäume erklettern und von ihnen fallen, in der Erde buddeln und dabei ganz schwarze Nägel bekommen.
Während Johanna Blumen optisch studierte und so ihre Farben, ihre Form, ihre Haltung und ihre Bewegung im Wind im Kopf abspeicherte, fasste ich sie an. Ihre glatten oder rauen Stängel, die leicht zu knicken waren, oder biegsam wie Leder und einfach nicht brechen wollten. Samtige Blüten zupfte ich ab und strich über ihre flauschige Oberfläche, Beeren quetschte ich, bis ihre dünne Schale aufplatze und klebriger Saft auf meine Finger tröpfelte.

Und nun Tante Bertas Siebzigster.
Wir waren Mädchen und sollten akkurat, adrett, lieb, brav, sauber, fleißig, gehorsam und entzückend aussehen.
Obendrein waren wir Zwillinge und sollten gleich aussehen. So gleich, daß möglichst niemand uns unterscheiden könnte.
Daß alle Freunde und Verwandte den Kopf schüttelten und sagten: „unglaublich, wie kann denn nur die Mutter die beiden auseinander halten.“
Unser Onkel war Fotograf. Es gab unzählige Bilder von uns. Auf allen sahen wir tatsächlich fast identisch aus.
Und so sehr Johanna und ich uns auch vom Charakter her unterschieden, in einem waren wir uns einig: wir wollten nicht identisch sein.
Onkel Günther manövrierte uns auf die Einfahrt vor seinem Haus. Die Wand hatte er erst vor einer Woche frisch gestrichen und weiße Farbtropfen sprengelten noch den Boden.
Für Schwarzweißfotos sei der Kontrast sehr wichtig, erklärte er uns, deshalb sei dieser Ort ideal für den Fotoband, den er der Familie schenken wollte.
Als eine Woche später unsere Mutter den Abzug aus einem Kuvert mit vielen anderen fischte, sagte sie: „Ach Gott Grete, Johanna lächelt wieder so schön. Was machst du denn nur für ein Gesicht?“
Johanna und ich schauten uns vielsagend an, nahmen uns bei der Hand und setzen uns in einen riesigen Heuballen.
Wir waren nicht identisch, aber wenn uns ein Recht auf eigene Identität abgesprochen wurde, blieb uns nichts anderes übrig, als denen, die die Namen Grete und Johanna als ein Wort verwendetet, zum Narren zu halten.
Denn ich war die, die gelacht hatte und Johanna die, die absichtlich grimmig geschaut hatte. Aber das wußten nur wir.

Mittwoch, 10. August 2011

Aufgehoben

Es sind die Farben, die mich in seinen Bann ziehen.
Sandiges Hellbraun, durchzogen von gelben und orangenen Streifen, leuchtet wunderschön im Kontrast zum schwarzen Boden, auf dem er liegt.
Ich hebe den Stein auf. Seine Oberfläche ist rau und spröde. Wenn ich ein wenig an ihr kratze, rieseln sogleich sandige Körner zu Boden und hinterlassen eine kleine Vertiefung.
Wie ungewöhnlich fragil er doch ist, für einen Stein.
Harte Böen schlagen mir ins Gesicht, verwirbeln meine Haare, zerren an Hose und Jacke und rauben mir die Luft zum Atmen.
Alle Mann weiter, dort hinten ist eine Treppe, da müssen wir runter. Haltet euch gut fest, ist ein bisschen wackelig.“
Unser Professor steht breitbeinig hinter mir und fuchtelt mit seinen Armen Richtung Norden. Von allen Seiten strömen meine Kommilitonen herbei, packen hurtig Zettelchen und Stiftchen, Tabellen und Messgeräte in sichere Taschen und marschieren auf zum Abstieg.
Ich denke darüber nach, wie das Monument, auf dem ich stehe, sich überhaupt bilden konnte. Wie konnte es den Naturgewalten Regen, Hagel, Sturm, Blitz und Donner, wie konnte es diesen gnadenlosen Mächten über so viele Epochen hinweg trotzen?
Welches ist die Kraft, die es im Inneren zusammen hält?
Schwarz ragt es ganz unvermittelt aus der Erde, so riesig, so scheinbar fehl am Platz, umgeben von unschuldig grünen Wiesen, die seine faszinierende Bedrohung nur noch mehr hervorheben.
Kein Wunder, daß hier schon vor Jahrhunderten die Sage entstand, der Teufel selbst habe dieses steinerne Werk erbaut.
Und so verlieh ihm Beelzebub persönlich seinen Namen: die Teufelsmauer.
Doch niemand anderes als die Erde selbst schuf diese herausragende Formation.
Als sich der Harz bildete und durch tektonische Bewegungen die Erdoberfläche zu Bergen machte, stellten sich die Gesteinsschichten an dessen Rand steil auf. Über die Jahrtausende blieben nur die Härtesten stehen und präsentieren sich seid dem stolz und ausdauernd den unzähligen Generationen des Menschengeschlechts.
Mein kleiner vergänglicher und doch so alter Talisman scheint ein Überbleibsel dieser abgetragenen Schichten zu sein. Womöglich war er mal Teil eines riesigen Sandsteinberges, dessen winzig kleine Überreste nun Platz in meiner Hand finden.
Tobias, jetzt komm schon.“ Kurz darauf eilt dieser, noch im Laufen in ein Heftchen kritzelnd, an mir vorbei.
Die Teufelsmauer konnte nur entstehen, weil ihr Sandstein besonders hart ist. Die einzelnen Körner sind so fest miteinander verkittet, dass keine noch so große Katastrophe sie zu trennen vermochte. Anders mein Talisman.
Jeder Regen, jeder Sturm scheint ihm ein wenig zuzusetzen. Wie viele Jahre bräuchte es wohl, bis seine Körner in alle Winde verstreut wären, bliebe er hier liegen?
Jahrhunderte, Jahre, vielleicht sogar nur Wochen oder gar Tage?
Ich sehe meine Kommilitonen und unseren Professor wie eine Wandergruppe weit unter mir auf der grünen Wiese laufen.
An die 20 Mann, dicht beieinander, sie schwatzen und diskutieren, irgendwer hält dem Professor eine Digitalkamera hin, deren Anblick ihn in bebendes Gelächter ausbrechen lässt.
Keiner merkt, daß ich hier stehe. Daß ich nicht dort unten mit ihnen durch das hohe Gras stapfe.
Der Himmel, die ganze Zeit schon von grauen, tiefhängenden Wolken verdeckt, fängt an sich seiner nassen Last zu entledigen.
Dicke Tropfen klatschen auf den sandigen Untergrund und hinterlassen kleine, nasse Dellen.
Bevor ich losrenne, zerre ich mir den Rucksack von den Armen und öffne mit hektischen Händen den Reißverschluss.
Dann hole ich eine Plastiktüte hervor und wickle den kleinen Talisman sorgsam hinein. Er ist noch ganz trocken, doch auf meiner Handinnenfläche bleiben ein paar Sandkörnchen kleben.
Nichts lässt sich aufhalten, selbst die Teufelsmauer wird irgendwann nicht mehr stehen. Doch in guter Umgebung kann man vielleicht ein wenig länger existieren.
Mit diesem Gedanken im Kopf schwinge ich meinen Rucksack auf den Rücken und meine schnellen Schritte hinterlassen Abdrücke auf dem Boden der Teufelsmauer.

Katzentatzen im Wohnzimmer

Ich kann nicht sagen, welche Erinnerung die älteste ist, wenn ich an die vielen Räume meiner Kindheit denke.
Zweifelsfrei entspringt sie jedoch einem der Zimmer, die sich in dem damals neuen Reihenhaus befanden, welches ich vom Tag des Einzugs an mein Zuhause nennen sollte.
Und im Grunde ist so ein Haus ja auch nur ein sehr großer Raum, der senkrecht und waagerecht mehrmals unterteilt wurde.
Ich höre noch das scheppernde Geräusch der zufallenden Haustür und das darauf folgende sich entfernende Klappern der Schritte meiner Mutter.
Wenn ich meine Ohren spitzte, konnte ich sogar das Anlassen des Motors ihres Opel Kadett hören, das langsame Ausparken und wie sich schließlich das Brummen im Nichts verlor.
Dann breitete sich eine, durch ihre Plötzlichkeit, fast greifbare Stille im Haus aus, nur durch das gelegentliche Seufzen des Kühlschranks oder das unangemeldete Knallen eines der Heizungsrohre unterbrochen.
Diese Stille zauberte mir eine knisternde Spannung zwischen die weiß getünchten Rauhfasertapeten. Ich fühlte mich sogleich nicht etwa allein, sondern ganz und gar bei mir und wundersam frei.
Ich erhob mich von der obersten Treppenstufe, die mir bis dahin einen Platz gewährt hatte und blickte vorfreudig durch das schlanke schwarze Holzgeländer.
Das Sonnenlicht des weit vorangeschrittenen Nachmittags flutete großzügig durch die großen Terassenfenster und verlieh dem so aufgeräumten Wohnzimmer die lebendige Ruhe eines Stilllebens.
Der geschwungene Chippendale Sekretär meiner Mutter erstrahlte im goldbraunen Glanz, der Kamin schlief seinen tiefen Sommerschlaf und das Besteck hing abwartend zu seinen Füßen, jeder Zeit bereit wieder eingesetzt zu werden.
Auf dem cremefarbenen Marmortisch standen stolze lila Tulpen und versprühten ihren edlen Duft von Wohnlichkeit.
Als ich dann bedächtig, Stufe für Stufe nach unten schritt, erwarteten mich diese stummen Zeugen und richteten, das konnte ich in jeder meiner elektrisierten Poren spüren, ihr Augenmerk ausschkießlich auf mich.
Vor der meterlagen nussbraunen Schrankwand blieb ich stehen und atmete ein.
Die Spannung in mir stieg, der Raum war nun so still, wie ein Theatersaal, wenn sich der Vorhang lüftet.
Mit einem Schwung öffnete ich die hölzernen Flügeltüren. Matt glänzend dämmerte dahinter ein wuchtiger Fernseher im stand by Modus vor sich hin.
Unbeachtet lies ich ihn weiter dösen.
Meine Aufmerksamkeit galt der Stereoanlage meines Vaters im Regal darüber.
Weil kleine Kinder selbst die kompliziertesten Abläufe schnell begreifen, schaltete ich ohne weiter darüber nachzudenken erst den Verstärker und dann den CD Player an.
Rote und blaue Lichtchen signalisierten das erfolgreich in Gang gebrachte Leben.
Ich öffnete die schwarze Plastikhülle mit den zwei grünen Katzenaugen und holte die darin liegende Silberscheibe heraus.
Bevor ich „play“ drückte, kostete ich den Moment der Vorfreude noch etwas aus.
Das Publikum saß an seinem Platz, wartete gespannt auf den großen Augenblick.
Ich stellte mich mit meiner bunten Leggins und meinem neonfarbenen Tshirt breitbeinig hin und drückte den Knopf der Fernbedienung.
Als die Musik erklang verwandelten sich die beiden sandfarbenen Couchen in sich in der Tiefe des Raumes verlierende Sitzreihen, der steife Perserteppich wurde zu schwarzen Holzbrettern und der Kronleuchter zu einem einzigen hellen Spot, der, nur auf mich gerichtet, jede meiner Bewegungen verfolgte.
Dann schwang ich meine Beine, hüpfte, wirbelte, drehte mich mehrmals im Kreis und ahmte die Bewegung von tanzenden Katzen nach.
Ich sang jede Zeile auswendig mit, wurde hinterlistig, überheblich, grazil, verführerisch, altersschwach, ein ganzer Chor, mein eigener Duettpartner.
Am Ende jedes Liedes strahlte ich in die Menge und genoß ihren Beifall.
Das Publikum johlte, es gab stehende Ovationen, unzählige Zugaben, der Vorhang fiel und öffnete sich doch wieder im Schwung der Begeisterungsstürme.
Doch als sich der Schlüssel meiner Mutter in der Haustür drehte, schnellte der Zauber schockiert durch den Kamin nach draußen, floh in den Keller, zog sich blitzschnell durch Abflüsse, offene Fenster und die kleinsten Ritzen in die sichere Zwischenwelt des Abwartens zurück.
Beschämt verstummte der Raum und schwieg ertappt.
Dann stand ich da mit rotem Kopf und wünschte mir, ich könnte diese beiden Welten vereinen.