Dienstag, 23. August 2011

Tante Bertas siebzigster Geburtstag.

Es war einer dieser unendlich wichtigen familiären Höhepunkte, an welchem es erforderlich war, dass wir wieder als eine Person mit zwei Körpern herumliefen.
Unsere Mutter ging mit liebevoller, aber kompromissloser Perfektion an diese Sache heran. Sie steckte uns nicht nur in zwei extra zu diesem Anlass neu erstandene dunkelbraune steife Kordkleidchen, mit einem affigen weißen Kragen, der es einem von vornherein verbat sich am üppigen Buffett zu bedienen. Sie vermaß zudem noch penibel den Abstand der Metallklämmerchen, die unsere breiten weißen Haarbänder fixierten, zu unseren Ohren.
Erst als sie absolut sicher war, daß selbst wir nicht mehr merken konnten, ob wir einem Spiegel oder uns selbst gegenüberstanden, war sie einigermaßen beruhigt. Sollte das verstehen, wer will.
Wir glichen uns doch schon sowieso wie ein Ei dem anderen, da wir eineiige Zwillinge waren.
Diese Feier war für uns ein Rückschritt unserer hart erkauften Individualitäten. Nach wochenlangem Betteln während der großen Schulferien, hatten wir durch unsere Penetranz schließlich durchgesetzt, daß wir ab der dritten Klasse endlich in unterschiedlichen Klamotten zur Schule gehen durften.
Johanna trug viel lieber Röcke als ich. Und Strumpfhosen. Mir ziepten und kniffen diese am Po und sobald man mal hin fiel, war ein Riss drin und und Mama schimpfte, weil sie wieder stopfen mußte.
Ein Grund mehr, weshalb ich Hosen bevorzugte, denn Röcke legten an meinen bestrumpften Beinen unzählige Löcher frei, die Mama akkurat genäht hatte und die nun als Hubbel aus Garn zu erkennen waren.
Überall kleine Hügelchen in den blickdichten rosa oder weißen Strumpfhosen. Als hätte ich Masern, oder die Beulenpest.
Johanna bewegte sich eigentlich nur, weil es anders unmöglich war von A nach B zu gelangen. Oder weil man bei dieser Tätigkeit die vorbeiziehende Landschaft bestaunen konnte. So hielt sie oft an, blieb stehen und schaute fasziniert einer Amsel beim Pfützenbad zu. Beobachtend, mit ihren offenen, heiteren Augen, blickte sie in die Welt. Doch sie war nicht melancholisch. Ein zartes Lachen umspielte stets ihre Lippen, als erfreue sie sich permanent an ihrer Umgebung.
Ich dagegen musste meinen Lebensraum körperlich erkunden, ihn mit allen Sinnen erfassen, Bäume erklettern und von ihnen fallen, in der Erde buddeln und dabei ganz schwarze Nägel bekommen.
Während Johanna Blumen optisch studierte und so ihre Farben, ihre Form, ihre Haltung und ihre Bewegung im Wind im Kopf abspeicherte, fasste ich sie an. Ihre glatten oder rauen Stängel, die leicht zu knicken waren, oder biegsam wie Leder und einfach nicht brechen wollten. Samtige Blüten zupfte ich ab und strich über ihre flauschige Oberfläche, Beeren quetschte ich, bis ihre dünne Schale aufplatze und klebriger Saft auf meine Finger tröpfelte.

Und nun Tante Bertas Siebzigster.
Wir waren Mädchen und sollten akkurat, adrett, lieb, brav, sauber, fleißig, gehorsam und entzückend aussehen.
Obendrein waren wir Zwillinge und sollten gleich aussehen. So gleich, daß möglichst niemand uns unterscheiden könnte.
Daß alle Freunde und Verwandte den Kopf schüttelten und sagten: „unglaublich, wie kann denn nur die Mutter die beiden auseinander halten.“
Unser Onkel war Fotograf. Es gab unzählige Bilder von uns. Auf allen sahen wir tatsächlich fast identisch aus.
Und so sehr Johanna und ich uns auch vom Charakter her unterschieden, in einem waren wir uns einig: wir wollten nicht identisch sein.
Onkel Günther manövrierte uns auf die Einfahrt vor seinem Haus. Die Wand hatte er erst vor einer Woche frisch gestrichen und weiße Farbtropfen sprengelten noch den Boden.
Für Schwarzweißfotos sei der Kontrast sehr wichtig, erklärte er uns, deshalb sei dieser Ort ideal für den Fotoband, den er der Familie schenken wollte.
Als eine Woche später unsere Mutter den Abzug aus einem Kuvert mit vielen anderen fischte, sagte sie: „Ach Gott Grete, Johanna lächelt wieder so schön. Was machst du denn nur für ein Gesicht?“
Johanna und ich schauten uns vielsagend an, nahmen uns bei der Hand und setzen uns in einen riesigen Heuballen.
Wir waren nicht identisch, aber wenn uns ein Recht auf eigene Identität abgesprochen wurde, blieb uns nichts anderes übrig, als denen, die die Namen Grete und Johanna als ein Wort verwendetet, zum Narren zu halten.
Denn ich war die, die gelacht hatte und Johanna die, die absichtlich grimmig geschaut hatte. Aber das wußten nur wir.