Samstag, 3. September 2011

War und ist

Grete schloss die Tür.
Jetzt war er weg. Literweise Einsamkeit schwappte auf sie nieder und machte ihre leere Wohnung zu einem Ort der Unerträglichkeit.
Das paradoxe daran war, daß es sich zwar so anfühlte, als sei die Unerträglchkeit nicht zu ertragen, es ging jedoch verblüffend einfach.
Alles was sie tun mußte, war weiter zu atmen. Zug um Zug. Ein und aus. Wenn sie dann das Gefühl bekam, dass sie es gleich nicht mehr weiter würde aushalten können, wartete sie ab, Augenblick um Augenblick, bis es nicht mehr gehen würde. Doch es ging und es passiert einfach gar nichts. Sie platzte nicht, sie fiel nicht tot um oder löste sich in Luft auf.
Sie stand da, die Hand an ihrer Türklinke, den Kopf leicht gesengt. Durch die Fenster fielen die blassen Strahlen einer wolkenverdeckten Sonne. Sie hätte das Licht anmachen können, an diesem Oktobermorgen, doch sie wollte nichts verändern.
Es gab Konservendosen, die hielten ihren Inhalt zwanzig Jahre haltbar.
Grete lies die Klinke los und ging durch den kleinen Flur in ihr Schlafzimmer. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Ihre Bettdecke lag zerwühlt nur halb auf ihrem Bett und ergoß sich zum anderen Teil bis auf den Parkettboden. Das Kissen klemmte zusammengeknautscht zwischen den geschwungenen schwarzen Metallstäben. Sie trat ganz nah heran und kniete sich davor. Die rechte Hand legte sie auf ihre Matratze und schob sie vorsichtig unter ihre Bettdecke. Es war noch warm darunter. Auf dem weißen Bezug kringelten sich ein paar blonde Locken neben dunklen langen Haaren.
Sie atmete ein und aus. Die Zeit, in der etwas passiert, war so kurz, die Zeit in der es dann Erinnerung war, so unendlich.
Sie machte ihr Bett nicht. Sie sah sich nur an, was es erzählte, so konnte sie den schleichenden Übergang von Realität zu Erinnerung noch etwas hinauszögern. Sobald sie sich heute Nacht wieder hineinlegen würde, würde dieser kleine Gedankenjuwel für immer in die Untiefen ihres unendlichen Gedächtnisses hinabgleiten. Dort ruhte er dann, im Setzkasten ihrer besonderen Augenblicke, um jederzeit herausgenommen, angeschaut und bewundert zu werden und doch nur als Beweis dafür zu gelten, dass so viel war und so wenig blieb.
Grete löste sich vom zerwühlten Bett. Sie ging in die Küche und stellte den Wasserkocher an.
Aus dem Schrank holte sie eine blassgelbe Kaffeetasse samt Untertasse heraus. Ein schwarzer Hahn mit rotem Schnabel und rotem Kamm zierte den Keramikpott.
Bevor es passierte, damals, wurde sonntags bei ihnen immer schön eingedeckt, Kerzen hatten dann gebrannt, im Winter auch der Kamin und sie alle vier, Mama, Papa, Johanna und sie selbst, Grete, hatten am Tisch gesessen und getoastetes Toastbrot gegessen von blassegelben Tellern mit einem schwarzen Hahn und einer schwarzen Henne.
Grete packte einen Plastikkaffeefilter auf eine ebenfalls gelbe Keramikkanne. Dann legte sie einen Filter hinein und streute mehrere Löffel gemahlenen Kaffee darauf.
Das Wasser im Kocher schlug Blasen. Nach und nach goss sie es auf das Pulver und beobachtete, wie es anfing zu schwimmen und sich brauner Schaum am Rand sammelte. Langsam sank der Wasserspiegel wieder und sie goss nach.
Filterkaffee mit einem Schuß Dosenmilch, die ihm, umgerührt, eine goldbraune Farbe verleiht.
Ihre Eltern hatten nur Kondensmilch benutzt, so sieht es schöner aus, hatten sie immer gesagt, mit gewöhnlicher Vollmilch würde der Kaffee hingegen grau werden.
Wenn sie, Grete, Johanna besuchte, dann bekam sie von ihr einen Latte Macchiato mit viel aufgeschäumter H-Milch in einem dicken, großen Glas. Daneben lag ein extra langer Löffer, damit man den braunen Gürtel, der zwischen der Schaumkrone und dem warmen Milchboden hing, umrühren konnte.
Grete goss Wasser nach.
Der Kaffee ihrer Schwester schmeckte gut, sehr gut, aber anders.
Die Kanne war voll.
Sie stellte Tasse und Untertasse auf ein Platzdeckchen auf ihrem Küchentisch und die Kanne auf einen Korkuntersetzer.
Dann goss sie sich den Kaffee ein.
Dampf stieg auf und es roch nach Frühstück. Es roch wie damals, genau wie damals.
Sie stand auf und holte sich die Kondensmilch aus dem Kühlschrank.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Mutter selbige ins schwarze Getränk gießen. Mit einem alten Silberlöffel rührte sie um, legt ihn dann auf die Untertasse und trank, vielmehr schlürfte sie einen kleinen Schluck.
Dann hatte sie selbst auch nach Kaffee gerochen.
Grete setzte die Tasse an und schlürfte. Eine kleine Unachtsamkeit und die Tasse und die Kanne würden vom Tisch fallen und in abertausende kleine Teilchen zerbrechen.
So etwas ging so schnell und doch, die Tasse, aus der ihre Mutter und ihr Vater getrunken hatten, war noch da.

Das wundersame Vögelchen

Auf dem runzeligen Ast einer in die Tage gekommenen Buche saß ein kleines Vögelchen und piepste vergnügt vor sich hin.
Es war ein wundersames Kerlchen, mit leuchtend roten Federn und einem drolligen, aber wunderschönen Puschel auf dem Kopf.
Wenn es lief oder oder etwa nickte, dann schwang dieser Puschel sanft umher und sorgte so nebenbei dafür, daß es viel stattlicher wirkte, als es eigentlich war.
Doch jetzt saß es einfach nur da und begrüßte den jungen Tag, der soeben seine schlaftrunkenen Augen öffnete. Bläuliches Zwielicht schob die Nacht Richtung Westen und offenbarte genügsam die Konturen des Waldes. 

Zwischen den unzähligen Stämmen waberte verirrter Nebel und konnte im weit verzweigten Grün der Baumkronen seinen Ausgang noch nicht finden.
In dieser vollkommenen Unbeschwertheit versprach der junge Morgen zu einem friedlichen Tag heranzuwachsen, als das plötzliche Stapfen schwerer Stiefel diese Unschuld jäh durchbrach. Feine Äste und getrocknete Blättchen zerbröselten in einem Chor aus Knacken und Krachen und hinterließen eine narbige Spur im Reich des fragilen Bodengewirrs.
Ein großer, schwarzer Schatten näherte sich unaufhaltsam der alten, knorrigen Buche und mit jedem Schritt, der ihren Abstand verkürzte, erklang das eben noch so sorglose Piepen lauter und hektischer.
Mit großen Augen fixierte das Vögelchen die riesige, dunkle Gestalt und sein puscheliger Kopfschmuck zitterte wie Schilf im Wind.
Atmelose Stille knallte schockartig bis in die letzten Wipfel, als die Schritte ein plötzliches Ende direkt vor dem Ast des leuchtend roten Waldbewohners fanden. Vor Schreck und Frucht hopste dieser vom Baum und flatterte davon.
Mit pochendem Herzchen landete das Vögelchen auf einem der höheren, dünneren Äste und blickte angstvoll hinunter. 

Die Starre des Entsetzens nahm von ihm Besitz, als schwarz behandschuhte Finger in eine fein säuberlich aufgeschichtete Ansammlung von Zweigen griffen und ein winziges fragiles Vogelei heraus stibitzten.
Es hatte eine cremeweiße Farbe und war so transparent, daß die dünnen Bahnen kleiner roter Adern durchschienen.
Aufgeregt piepste das Vögelchen los und sprang verstört auf und ab. Sein wuscheliger Puschel vibrierte und wogte bei jedem Sprung hektisch hin und her.
Das gequälte Piepsen wurde lauter und flehender, doch die Hand langte schon nach dem zweiten kleinen Ei und lies es ebenfalls in einer Ledertasche verschwinden.
Das Herz des Vögelchens schlug nun so schwindelerregend schnell, daß es drohte zu zerbrechen.
Da bewegte sich die Hand ein drittes mal zum holzigen Nest.
Ein letztes, einsames Ei ruhte noch darin. Unter seiner Schale pulsierte bereits das Leben und wartete nur auf den richtigen Moment sich der Welt zu zeigen.
Doch sein kurzes Schicksal schien besiegelt. Wie eine Dunkle Wolke legte die Hand sein Weiß in Schatten und verschlang es. Da sprang der rote Vogel mit einem grellen Schrei vom Ast und lies sich im Sturzflug direkt auf das glänzende Leder fallen.
Entschlossen warf er seinen Kopf nach vorne und hinten, sodass sein Federschmuck in großen Wellen um ihn herum wallte. Mit immer größeren Bewegungen schüttelte er seinen Körper und stieß dabei glasklare, lang gezogene Pfiffe aus.
Da hielt die Hand inne und bewegte sich nicht mehr.
Der ganze Wald hielt seinen Atmen an und tausend Augen richteten ihren Blick auf die beiden ungleichen Gegner.
Die Sonne schoß ihre ersten roten Strahlen über den Horizont und lies die Erde erglühen.
Erst als sich ihr Licht weiß verfärbte, durchbrach ein kaum wahrnehmbares Klopfen die Stille.
In der Mitte des schwarzen Handschuhs lag leuchtend hell das dritte Ei. Es rollte ein wenig hin und her, dann breitete sich ein feiner Riss quer über die Schale aus und schließlich sprang eine große Ecke weg und ein gelbes Schnäbelchen an einem kleinen, nassen Vogelköpfchen kam zum Vorschein.
Sein erster Schrei erklang bis über die Wipfel der Bäume und drang bis in die hintersten Ecken jeder noch so verhärteten Seele, als es nach seiner Mutter rief.
Der Schatten aber zuckte nur kurz im Echo einer Erinnerung.
Doch als eine zweite Narbe den Weg seines Rückzug preisgab, lugten zwei weiße Ovale durch die Öffnung einer Ledertasche, die wohl jemand auf dem Boden verloren hatte.
Und ein frisch geschlüpftes Küken plumpste etwas unsanft, aber unversehrt zurück ins mollige Nest.
Der Tag hielt, was sein sein Morgen versprochen hatte. Eine wärmende Sonne hing friedlich zwischen aufgeplusterten Wölkchen und die Vögel des Waldes trällerten beschwingt und heiter ihre Weisen. Doch ein Gesang übertraf alle anderen mit seinem schier endlosen Jubel vor Glück.