Mittwoch, 10. August 2011

Aufgehoben

Es sind die Farben, die mich in seinen Bann ziehen.
Sandiges Hellbraun, durchzogen von gelben und orangenen Streifen, leuchtet wunderschön im Kontrast zum schwarzen Boden, auf dem er liegt.
Ich hebe den Stein auf. Seine Oberfläche ist rau und spröde. Wenn ich ein wenig an ihr kratze, rieseln sogleich sandige Körner zu Boden und hinterlassen eine kleine Vertiefung.
Wie ungewöhnlich fragil er doch ist, für einen Stein.
Harte Böen schlagen mir ins Gesicht, verwirbeln meine Haare, zerren an Hose und Jacke und rauben mir die Luft zum Atmen.
Alle Mann weiter, dort hinten ist eine Treppe, da müssen wir runter. Haltet euch gut fest, ist ein bisschen wackelig.“
Unser Professor steht breitbeinig hinter mir und fuchtelt mit seinen Armen Richtung Norden. Von allen Seiten strömen meine Kommilitonen herbei, packen hurtig Zettelchen und Stiftchen, Tabellen und Messgeräte in sichere Taschen und marschieren auf zum Abstieg.
Ich denke darüber nach, wie das Monument, auf dem ich stehe, sich überhaupt bilden konnte. Wie konnte es den Naturgewalten Regen, Hagel, Sturm, Blitz und Donner, wie konnte es diesen gnadenlosen Mächten über so viele Epochen hinweg trotzen?
Welches ist die Kraft, die es im Inneren zusammen hält?
Schwarz ragt es ganz unvermittelt aus der Erde, so riesig, so scheinbar fehl am Platz, umgeben von unschuldig grünen Wiesen, die seine faszinierende Bedrohung nur noch mehr hervorheben.
Kein Wunder, daß hier schon vor Jahrhunderten die Sage entstand, der Teufel selbst habe dieses steinerne Werk erbaut.
Und so verlieh ihm Beelzebub persönlich seinen Namen: die Teufelsmauer.
Doch niemand anderes als die Erde selbst schuf diese herausragende Formation.
Als sich der Harz bildete und durch tektonische Bewegungen die Erdoberfläche zu Bergen machte, stellten sich die Gesteinsschichten an dessen Rand steil auf. Über die Jahrtausende blieben nur die Härtesten stehen und präsentieren sich seid dem stolz und ausdauernd den unzähligen Generationen des Menschengeschlechts.
Mein kleiner vergänglicher und doch so alter Talisman scheint ein Überbleibsel dieser abgetragenen Schichten zu sein. Womöglich war er mal Teil eines riesigen Sandsteinberges, dessen winzig kleine Überreste nun Platz in meiner Hand finden.
Tobias, jetzt komm schon.“ Kurz darauf eilt dieser, noch im Laufen in ein Heftchen kritzelnd, an mir vorbei.
Die Teufelsmauer konnte nur entstehen, weil ihr Sandstein besonders hart ist. Die einzelnen Körner sind so fest miteinander verkittet, dass keine noch so große Katastrophe sie zu trennen vermochte. Anders mein Talisman.
Jeder Regen, jeder Sturm scheint ihm ein wenig zuzusetzen. Wie viele Jahre bräuchte es wohl, bis seine Körner in alle Winde verstreut wären, bliebe er hier liegen?
Jahrhunderte, Jahre, vielleicht sogar nur Wochen oder gar Tage?
Ich sehe meine Kommilitonen und unseren Professor wie eine Wandergruppe weit unter mir auf der grünen Wiese laufen.
An die 20 Mann, dicht beieinander, sie schwatzen und diskutieren, irgendwer hält dem Professor eine Digitalkamera hin, deren Anblick ihn in bebendes Gelächter ausbrechen lässt.
Keiner merkt, daß ich hier stehe. Daß ich nicht dort unten mit ihnen durch das hohe Gras stapfe.
Der Himmel, die ganze Zeit schon von grauen, tiefhängenden Wolken verdeckt, fängt an sich seiner nassen Last zu entledigen.
Dicke Tropfen klatschen auf den sandigen Untergrund und hinterlassen kleine, nasse Dellen.
Bevor ich losrenne, zerre ich mir den Rucksack von den Armen und öffne mit hektischen Händen den Reißverschluss.
Dann hole ich eine Plastiktüte hervor und wickle den kleinen Talisman sorgsam hinein. Er ist noch ganz trocken, doch auf meiner Handinnenfläche bleiben ein paar Sandkörnchen kleben.
Nichts lässt sich aufhalten, selbst die Teufelsmauer wird irgendwann nicht mehr stehen. Doch in guter Umgebung kann man vielleicht ein wenig länger existieren.
Mit diesem Gedanken im Kopf schwinge ich meinen Rucksack auf den Rücken und meine schnellen Schritte hinterlassen Abdrücke auf dem Boden der Teufelsmauer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen