Ich fuhr eines Tages Bus.
Nun ja, was heißt hier eines Tages. Ich fahre eigentlich jeden Tag Bus, zumindest jeden Werktag und da nehme ich dann auch immer den gleichen Bus, um die gleiche Zeit, vom einen Ort zum anderen Ort. Und die Orte sind natürlich auch immer die selben.
Ich stieg also eines Tages wieder in den Bus und zwar ca. fünf Jahre später, nachdem ich angefangen hatte, jeden Tag den gleichen Bus zu nehmen.
Und da passierte es dann. Sie werden sich wundern, dass mir das nicht vorher schon einmal passiert ist, aber dazu muß ich erwähnen, dass meine Haltestelle die zweite nach der ersten Haltestelle ist, an der der Bus eingesetzt wird.
Ich stieg, ohne viel Aufhebens darum zu machen durch die vordere Tür und als ich gerade eine dezente Rechtsdrehung vollzog, um mich mich auf den vorwärtsgewandten Fensterplatz der Sitzbank niederzulassen, erschrak ich, drehte mich aber betont unauffällig weiter, um dann, bis ins Mark erschüttert, auf dem gegenüberliegenden, ruckwärtsgewandten Sitz platz zu nehmen.
Vor mir saß ein junger Mann, mit, für meinen Geschmack, etwas zu wirrem Haar, viel zu großer Kleidung und Kopfhörern in den Ohren. In seinen Händen hielt er ein Magazin, in dem er zu lesen schien und aus seinem Mund drangen leise Schmatzgeräusche, ausgelöst, durch das Herumkauen auf einem Kaugummi.
Ich starrte ihn fassungslos an.
Er saß auf meinem Platz.
Er hatte sich dort breit gemacht, wo ich seid fünf Jahren, um die gleiche Zeit gesessen, meine Laugenbrezel gegessen und die vorbeiziehende Landschaft durch das Fenster betrachtet hatte.
Und zwar in Fahrtrichtung.
Nun hockte ich, völlig paralysiert, rückwärtsfahrend ihm gegenüber und konnte nachfühlen, wie sich Ureinwohner eines Landes gefühlt haben mussten, als sie von fremden Eindringlingen vertrieben worden waren.
Oder Menschen, die aufgrund eines Sturmes Stromausfall haben, aber wissen, dass das noch gar nichts ist, wenn sie an den aufziehenden Taifun denken.
Es war ja nicht so, dass nur ich meinen Sitzplatz verloren hätte. Die Kettenreaktion, die nun ausgelöst würde, könnte in ihrer Gesamtheit die ganze Stadt zum Kollabieren bringen.
Die Türen schlossen sich, bevor ich, um das herannahende Unglück zu verhindern, wieder aussteigen konnte und sogleich setzte sich der Bus in Bewegung. Ich schwitzte Wasser und Blut auf dem Weg zur nächsten Haltestelle, ausgelöst, durch die Schreckensszenarien, die vor meinem geistigen Auge aufzogen.
Ich kann es auch jetzt noch nicht anders Umschreiben.
Die Fahrt endete in einem menschlichen Desaster.
Während ich meine Finger in den Samtüberzug krallte und mich auf unmenschliche Weise damit abmühte nicht die Beherrschung zu verlieren, schmatzte der junge Mann unverdrossen weiter, anscheinend nicht ahnend, was er mit seiner Tat auslösen würde.
Kommenden Halt würden genau fünf Menschen in den Bus steigen.
Zuerst Fräulein Niepelt, die für Gewöhnlich mir gegenüber sitzt, also dort wo ich jetzt saß, und mir jeden morgen, bevor sie dann versonnen aus dem Fenster schaut, einen „schönen guten Morgen“ wünscht.
Danach käme dann Frau Prokop – Röstel, eine etwas fülligere Dame aus der Verwaltung der ansässigen Versicherung und würde sich neben dem grazilen Fräulein Niepelt niederlassen.
Neben mich, wenn ich dort sitzen würde, wo ich eigentlich immer saß und nicht der junge Mann mit den Kopfhörern, würde sich Herr Gruchot setzen, ein feiner Herr mit Aktentasche und Schnauzbart, den er in regelmäßigen Abständen zwirbelt.
Sein Blick würde nicht eine Sekunde lang vom Antlitz des Fräulein Niepelts weichen, die dann zehn Haltestellen später ein leises „Entschuldigen Sie bitte,“ hauchen würde. Herr Gruchot würde dann mit einer kleinen Verbeugung aufstehen, Fräulein Niepelt die Hand reichen und ihr so an Frau Prokop – Röstel vorbei helfen.
Bevor dies alles jedoch geschehen würde, hätten hinter mir und Herrn Gruchot, Herr Striezelt und Herr Schnürer Platz genommen um sich dann auf der weiteren Fahrt über Märklin Modelleisenbahnen zu unterhalten.
Herr Schnürer hatte sich zum 25. Hochzeitstag ein ganz besonderes Geschenk gemacht und die Berge Perus mit Fimo nachgeknetet und somit einen exakten 1:100 Nachbau der höchsten Eisenbahnstrecke der Welt in seinem Hobbykeller.
Diese fünf Menschen würden nächste Haltestelle einsteigen und sähen sich gezwungen einen anderen Platz einzunehmen. Fräulein Niepelt würde sich wahrscheinlich mit hochroten Kopf auf die Sitzbank nebenan setzen und dort aus dem Fenster starren.
Herr Gruchot würde sich darauf hin ohne Zweifel mehrmals entrüstet Räuspern und dann gegenüber von Frau Niepelt Platz nehmen.
Frau Prokop – Röstel würde, ohne mit der Wimper zu zucken, ihren angestammten Platz (also nun neben mir!) in Anspruch nehmen (wahrscheinlich auch, wenn dort jemand säße). Herr Striezelt und Herr Schnürer hätten zwar keine Probleme mit ihrem Sitzplatz, würden sich jedoch gehörig wundern und womöglich kein Wort über die Lippen bringen.
Und das alles würde schon an er nächsten Haltestelle passieren.
An der darauf folgenden würde es dann richtig lustig werden.
Sie liegt im Stadtzentrum und deshalb würden fünfzehn weitere Leute in den Bus stürmen.
Ich möchte jetzt nicht über jeden weiteren Fahrgast in Detail gehen, nur so viel:
Auf dem Platz, auf dem jetzt Frau Niepelt säße, sitzt für gewöhnlich Herr Fräßle, ein riesiger, schwergewichtiger Vertreter, der mit seinen zig Koffern und Taschen die ganze Bank einnimmt. Falls er Fräulein Niepelt nicht plattwalzen würde, würde er wahrscheinlich hinter Herrn Gruchot Platz nehmen und dort die gesamte Bank für sich beanspruchen. Dies würde dazu führen, dass Herr Morzynski und Herr Sammanotte sich nicht auf die Bank neben Herrn Striezelt und Herrn Schnürer setzten könnten und sich so neben Herrn Gruchot und Fräulein Niepelt setzen müssten.
Herr Gruchot und Herr Sammanotte sind sich aber spinnefeind, da Herr Sammanotte im ansässigen Blasinstrumentenverein als Vorsitzender gewählt wurde und Herr Gruchot nicht. Herr Sammanotte wurde übrigens einstimmig gewählt, bis auf eine Stimme...
Wahrscheinlich würden sich deshalb Herr Sammanotte und Herr Morzynski doch nicht neben Herr Gruchot und Fräulein Niepelt setzen sondern jetzt hinter Herrn Fräßle.
Sie ahnen es, hinter Herrn Fräßle sitzen für gewöhnlich jedoch Frau Warneke und Frau Zurzolo. Die würden nun wiederum Herrn Sammanotte und Herrn Morzynski auf ihren Plätzen wieder finden, die ja für Gewöhnlich vor ihnen sitzen.
So würden sich die beiden Damen wohl hinter Herrn Striezelt und hinter Herrn Schnürer setzen, aber somit die Plätze für Frau Nasse und Fräulein Brötje wegnehmen.
Und so würde es sich weiter ziehen, weiter und weiter, durch den gesamten Bus, alle wären durcheinander und verstört und am nächsten Tag, wenn der junge kaugummikauende Mann nicht mehr da wäre, wäre trotzdem alles anders und nichts mehr so wie früher.
Manch einer mag mich jetzt für einen etwas überdrehten, hypernervösen und panikbelasteten Charakter unserer Zeit halten, aber ich sage ihnen, dass war kein Spaß. Man sollte die Konsequenzen, die entstehen, wenn man Menschen ihren vertrauten Platz und sie aus ihrer geliebten Umgebung entreißt, durchaus ernst nehmen.
Der Bus wurde langsamer und ruckelte zum nächsten Halt.
Bleichgesichtig und der Ohnmacht nahe, erwartete ich das nun folgende Trauerspiel und weil ich bei schrecklichen Geschehnissen nie hinschauen kann, wandte ich den Kopf ab und blickte versteift und fast unter der Last der Welle aus schlechtem Gewissen zusammenbrechend, aus dem Fenster.
Leider war genau das mein einziger Fehler. Mein eigener, einziger, doch fataler Fehler.
Denn so bekam ich nicht mit, daß der junge Mann mit dem Magazin, den Kopfhörern und dem Kaugummi sich erhob und ausstieg.
Aus meiner Starre erwachte ich erst, als ich ein entrüstetes Räuspern hörte, das zweifelsohne von Herrn Gruchot stammte. Er starrte mich fassungslos an und setzte sich dann tatsächlich gegenüber von Fräulein Niepelt, die auf der Sitzbank nebenan platz genommen hatte und bereits aus dem Fenster starrte.
Dann erst wurde mir bewusst, was geschehen war. Ich blickte auf meinen eigenen, angestammten Sitz und realisierte, dass er leer war.
Alle mussten denken, dass ich alleine es war, der den Platz gewechselt hatte und dann auch noch auf dem von Fräulein Niepelt platz genommen hatte. Ausgerechnet Fräulein Niepelt.
Was im Folgenden geschah kann ich nur bruchstückhaft wiedergeben. Es ist der gleiche Effekt, der einsetzt, wenn Menschen einen schweren Unfall haben. Auch sie können sich nicht genau daran erinnern. Nur die schrecklichen Bilder und Emotionen kommen in der posttraumatischen Phase immer wieder hoch.
Ich weiß noch, dass ich die Blicke der anderen, wie glühend heiße Nadelspitzen auf mir spürte.
Ich kann mich noch an die erschreckten Seufzer und geschockten Aaahs und Ooohs erinnern, die allein mir galten.
Später musste der Notarztwagen kommen und mich abtransportieren. Ich hatte hyperventiliert und Schaum vor den Mund bekommen.
Auf die Frage, ob mich irgendjemand kenne, schüttelten alle die Köpfe. Nur Fräulein Niepelt starrte weiter aus dem Fenster.
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