Mittwoch, 10. August 2011

Katzentatzen im Wohnzimmer

Ich kann nicht sagen, welche Erinnerung die älteste ist, wenn ich an die vielen Räume meiner Kindheit denke.
Zweifelsfrei entspringt sie jedoch einem der Zimmer, die sich in dem damals neuen Reihenhaus befanden, welches ich vom Tag des Einzugs an mein Zuhause nennen sollte.
Und im Grunde ist so ein Haus ja auch nur ein sehr großer Raum, der senkrecht und waagerecht mehrmals unterteilt wurde.
Ich höre noch das scheppernde Geräusch der zufallenden Haustür und das darauf folgende sich entfernende Klappern der Schritte meiner Mutter.
Wenn ich meine Ohren spitzte, konnte ich sogar das Anlassen des Motors ihres Opel Kadett hören, das langsame Ausparken und wie sich schließlich das Brummen im Nichts verlor.
Dann breitete sich eine, durch ihre Plötzlichkeit, fast greifbare Stille im Haus aus, nur durch das gelegentliche Seufzen des Kühlschranks oder das unangemeldete Knallen eines der Heizungsrohre unterbrochen.
Diese Stille zauberte mir eine knisternde Spannung zwischen die weiß getünchten Rauhfasertapeten. Ich fühlte mich sogleich nicht etwa allein, sondern ganz und gar bei mir und wundersam frei.
Ich erhob mich von der obersten Treppenstufe, die mir bis dahin einen Platz gewährt hatte und blickte vorfreudig durch das schlanke schwarze Holzgeländer.
Das Sonnenlicht des weit vorangeschrittenen Nachmittags flutete großzügig durch die großen Terassenfenster und verlieh dem so aufgeräumten Wohnzimmer die lebendige Ruhe eines Stilllebens.
Der geschwungene Chippendale Sekretär meiner Mutter erstrahlte im goldbraunen Glanz, der Kamin schlief seinen tiefen Sommerschlaf und das Besteck hing abwartend zu seinen Füßen, jeder Zeit bereit wieder eingesetzt zu werden.
Auf dem cremefarbenen Marmortisch standen stolze lila Tulpen und versprühten ihren edlen Duft von Wohnlichkeit.
Als ich dann bedächtig, Stufe für Stufe nach unten schritt, erwarteten mich diese stummen Zeugen und richteten, das konnte ich in jeder meiner elektrisierten Poren spüren, ihr Augenmerk ausschkießlich auf mich.
Vor der meterlagen nussbraunen Schrankwand blieb ich stehen und atmete ein.
Die Spannung in mir stieg, der Raum war nun so still, wie ein Theatersaal, wenn sich der Vorhang lüftet.
Mit einem Schwung öffnete ich die hölzernen Flügeltüren. Matt glänzend dämmerte dahinter ein wuchtiger Fernseher im stand by Modus vor sich hin.
Unbeachtet lies ich ihn weiter dösen.
Meine Aufmerksamkeit galt der Stereoanlage meines Vaters im Regal darüber.
Weil kleine Kinder selbst die kompliziertesten Abläufe schnell begreifen, schaltete ich ohne weiter darüber nachzudenken erst den Verstärker und dann den CD Player an.
Rote und blaue Lichtchen signalisierten das erfolgreich in Gang gebrachte Leben.
Ich öffnete die schwarze Plastikhülle mit den zwei grünen Katzenaugen und holte die darin liegende Silberscheibe heraus.
Bevor ich „play“ drückte, kostete ich den Moment der Vorfreude noch etwas aus.
Das Publikum saß an seinem Platz, wartete gespannt auf den großen Augenblick.
Ich stellte mich mit meiner bunten Leggins und meinem neonfarbenen Tshirt breitbeinig hin und drückte den Knopf der Fernbedienung.
Als die Musik erklang verwandelten sich die beiden sandfarbenen Couchen in sich in der Tiefe des Raumes verlierende Sitzreihen, der steife Perserteppich wurde zu schwarzen Holzbrettern und der Kronleuchter zu einem einzigen hellen Spot, der, nur auf mich gerichtet, jede meiner Bewegungen verfolgte.
Dann schwang ich meine Beine, hüpfte, wirbelte, drehte mich mehrmals im Kreis und ahmte die Bewegung von tanzenden Katzen nach.
Ich sang jede Zeile auswendig mit, wurde hinterlistig, überheblich, grazil, verführerisch, altersschwach, ein ganzer Chor, mein eigener Duettpartner.
Am Ende jedes Liedes strahlte ich in die Menge und genoß ihren Beifall.
Das Publikum johlte, es gab stehende Ovationen, unzählige Zugaben, der Vorhang fiel und öffnete sich doch wieder im Schwung der Begeisterungsstürme.
Doch als sich der Schlüssel meiner Mutter in der Haustür drehte, schnellte der Zauber schockiert durch den Kamin nach draußen, floh in den Keller, zog sich blitzschnell durch Abflüsse, offene Fenster und die kleinsten Ritzen in die sichere Zwischenwelt des Abwartens zurück.
Beschämt verstummte der Raum und schwieg ertappt.
Dann stand ich da mit rotem Kopf und wünschte mir, ich könnte diese beiden Welten vereinen.

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